Ein Jahr intensive Nutzung von Videokonferenz-Programmen hinterlassen Spuren. Viele Menschen von Jung bis Alt haben die Buttons „Mikro und Video an“ auch in Kirchentreffen gelernt und wiederholt angewendet. Jedoch wurde uns mit der Digitalisierung der Kommunikation auch ihre Grenze bewusst. Ob beruflich, ehrenamtlich oder privat, man spricht bereits von der sogenannten „Meeting-Müdigkeit“ (siehe dazu auch unseren Blog-Beitrag). Dauerhaft auf statische Videokacheln zu schauen, von denen nur in einer aktiv gesprochen wird, wirkt zunehmend ermüdend für alle Beteiligten. Obwohl durch ein bewegtes Bild mit Stimme, Mimik und Gestik ein Aufbau von Gemeinschaft in der Kirche trotz räumlicher Distanz möglich ist, kommt trotzdem oft Langeweile und Desinteresse gerade bei informellen Veranstaltungen über 10 Teilnehmern auf.

Die Schwierigkeit

Das größte Manko der „klassischen“ Videokonferenzen: Grundsätzlich fehlt die Freiheit, sich in einem Raum voller Menschen zu entscheiden, mit welcher Person man sich konkret aus der Gruppe unterhalten möchte. Welche Kirchengemeinde kennt es nicht, im Laufe des Jahres mit einem digitalen „Gemeinde-Café“ in Form eines Videomeetings nach dem Gottesdienst-Online-Livestream gestartet zu sein und nach wenigen Malen die Segel aufgrund mangelnden Interesses gestrichen zu haben. Wie kommt es dazu? Im realen Leben bei einer Gruppe von 30 Leuten würden natürlicherweise ca. 5 bis 15 Gesprächskreise entstehen. Nach 10 Minuten sieht das Ganze wieder anders aus. Dynamik pur, Größe und Mix an Leuten variieren in Realität über die Dauer eines freien Treffens. Jede Person besitzt die Chance, ihr Ziel selbst auszusuchen und die Dauer der Interaktion zu bestimmen. Bei einem einfachen Webmeeting in großer Runde, wo alle Teilnehmer auf die Möglichkeit selbst sprechen zu können meist warten müssen, ist Dynamik von Gesprächskreisen nicht so einfach möglich.

Es gibt zwar Videokonferenzen auf dem Markt, die Untergruppen zulassen. Diese müssen jedoch vom Administrator koordiniert werden. In gewissen Formaten, wo es um gezielten Austausch zu einem Thema geht, sind solche geführten „Breakouts“ völlig ausreichend. Aber gerade bei informellen Veranstaltungen, wo es eher um Smalltalk und freie Gespräche geht, sind die Absprungraten hoch. Es reizt die Teilnehmer bei zukünftigen Treffen immer weniger dabei zu sein, da sich Einzelne nur nacheinander beteiligen können.

Neue Möglichkeiten

Im Verlauf des letzten Jahres kamen neuartige Konzepte für virtuelle Gemeinschaftsgestaltung mehr und mehr ins Gespräch, die den Wunsch zu mehr Teilnehmer-Freiheit nun bedienen können. Diese Tools basieren in der Regel nicht auf vorinstallierten Apps sondern lassen sich über den Internetbrowser unter einer angegebenen Webadresse direkt starten. Mikro und Kamera müssen einmal für die Dauer der Nutzung freigegeben werden und schon ist man bei dem neuen Online-Erlebnis mit dabei.

Die Plattformen bedienen sich einer Mischung aus klassischer Videokonferenz und einem zweidimensionalen Raum. Der Nutzer ist nun imstande sich frei mit seinem Avatar zu bewegen. Er trifft damit die eigene Entscheidung, auf andere Personen oder bestehende Gesprächskreise zuzugehen oder sich in bestimmten Themenbereichen zu treffen. Je nach Konzept des Anbieters schaltet der Bildschirm bei genügend Nähe zum nächsten Teilnehmer in einen temporären Videokonferenz-Modus. In der anderen Variante bedient sich der Avatar direkt des Webcam-Livebildes. Soundtechnisch ist es beim Letzteren so konzipiert, dass man jeweils nur die Personen sprechen hört, die sich gerade in der Nähe befinden. Und in der Regel ist man beim ersten Mal erstaunt, wie die Stimmen ähnlich der Realität leiser werden je weiter man sich von anderen Teilnehmern entfernt.

Der Veranstalter kann den Aufbau des Raumes relativ simpel durch ein zu ersetzendes Hintergrundbild steuern. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Vom klassischen Grundriss eines Gebäudes, einem themenbasierten Motiv oder einer 3D-Lounge: Die meisten Anbieter stellen bereits ein paar Szenarien zur Verfügung. Die Auswahl lässt sich durch selbst erstellte Raumpläne und Motive inkl. Branding der eigenen Organisation beliebig weiter anpassen.

Hier sieht man beispielhaft einen Screenshot aus einer Come-Together-Veranstaltung Anfang 2021 der GOTTDIGITAL Community auf Wonder.me:

Um Ansagen oder andere zentrale Beiträge an die große Teilnehmergruppe zu adressieren, steht in der meisten Fällen eine „Broadcast“- oder „Megaphon“-Funktion zur Verfügung, bei denen der Sprecher auf dem Bildschirm aller Nutzer gleichzeitig präsent wird. Dies ist gerade für den Beginn zur Begrüßung der Teilnehmenden oder zum Ende einer Veranstaltung sinnvoll bzw. kann man es nutzen, um wichtige Zwischenansagen zu platzieren, falls sich das Format in der Agenda verändern soll.

Das Erlebnis reicht teilweise so weit, dass neben der Möglichkeit des freien Bewegens im Raum, Medien (z.B. Bilder, Onlinevideos oder das Teilen des Desktops) für alle sichtbar platziert werden können. So lassen sich mehrere Infostände in einem Raum abbilden, zeitgleich Seminare halten oder Livestreams gemeinsam anschauen und miteinander diskutieren.

Eine Plattform-Auswahl

Einige Anbieter habe ich bereits ausführlicher testen und in der Praxis anwenden können. Diese möchte ich im Folgenden einmal nach ihren Funktionen gegenüberstellen und eine Einschätzung abgeben, wie bestimmte Szenarien in einem kirchlichen Kontext umgesetzt werden können. Dabei ist aktuell schon absehbar: Die Liste der Plattformen wird in 2021 weiter zunehmen, so dass die folgende Matrix im Laufe des Jahres vermutlich noch weiter ergänzt wird.

FUNKTION WONDER SPATIALCHAT GATHER
Screenshot
Webseite https://wonder.me https://spatial.chat https://gather.town/
Kosten KOSTENLOS
(unabhängig von der Teilnehmerzahl,
bis voraussichtlich Herbst 2021)
KOSTENLOS nur noch bis Ende Januar ’21!
(bis 25 Personen, insgesamt 3000 Teilnehmer-Min./Tag).
Über 25 Pers. ab 50€/Monat
KOSTENLOS
(bis 25 Personen).
Über 25 Pers. individuell abhängig von der User-Anzahl
Gruppengröße Bis 2.000 Teilnehmer pro Raum Größere Gruppen möglich. Mehrere Räume und bis 50 Teilnehmer pro Raum in der Bezahlversion Bis 2.000 Teilnehmer pro Raum in der Bezahlversion
Software Browserbasiert, keine App- oder Kontoregistrierung für Teilnehmer Browserbasiert, keine App- oder Kontoregistrierung für Teilnehmer Browserbasiert, keine App- oder Kontoregistrierung für Teilnehmer
Räume pro Account 1 3 Mehrere, keine Max-Angabe
Wirkprinzip Gesprächskreise über temporäre Videokonferenzen sogenannte „Circles“. Live-Videoansichten in Avatar integriert. Kommunikation über Nähe zu anderen Soundquellen geregelt. Avatar wird durch eine vorgegebene Welt gelenkt. Computerspiel-der-90er-

Atmosphäre mit temporären Videokonferenzen.

Avatar-Erscheinung Statisches Foto Webcam-Livebild Figur-Avatar
Raum-Darstellung 2D-Hintergrund 2D-Hintergrund Begehbare 2D-Welt
Hintergründe Individuell anpassbar, Templates vorhanden Individuell anpassbar, Templates vorhanden Individuell anpassbar, Templates vorhanden
Videoansichten Kachel, bis Vollbild Kreisrund, kein Vollbild Kachel, Vollbild
Broadcast/Megaphon Ja Ja Ja
Chatfunktion Ja Ja Ja
– an alle Ja Ja Ja
– an Gruppe Ja Ja Ja
– an Einzelne Ja Nein Ja
– Chatverlauf Ja Nein, temporäre Sprechblase Ja
Teilen des Bildschirm Ja Ja Ja
– als Admin Ja Ja Ja
– als TeilnehmerIn Ja Ja Ja
– mit Audio Nein Ja Nein
Teilen von Video Nein Ja Ja
Teilen von Bildern Nein Ja Nein
Whiteboard Nein Nein Ja
Editierbare Meetings-Points (Themenräume) Ja, bis zu 15 Bereiche Nein, alternativ über temporär eingefügte Bilder möglich Nein, die virtuelle Umgebung muss vorab aufgebaut sein
Gemeinsames Videoschauen (YouTube, Twitch, Vimeo) Nein Ja Ja
Hintergrundmusik Nein Ja (über Teilen eines Videos) Nein
Privatgespräche Ja Nein Ja
Icebreaker-Frage bei Eintritt Ja Nein Nein
Persönliche Teilnehmerbeschreibung Nein Ja Nein
Nutzung mit mobilen Geräten Ja, stark eingeschränkt Ja, eingeschränkt Ja, stark eingeschränkt
– Audio Ja Ja Ja
– Video Nein Ja Nein
– Chat Ja Ja Nein
– Medien Eingeschränkt Eingeschränkt Eingeschränkt
Datenschutz  laut eigenen Angaben DSGVO-konform, keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung Nicht bekannt Nicht bekannt
Technische Voraussetzungen Für volles Nutzungserlebnis PC/Laptop (nicht zu alt)

Browser

Bevorzugt: Google Chrome. Bedingt: Microsoft Edge, Firefox.

Nicht unterstützt Safari.

Für volles Nutzungserlebnis PC/Laptop (nicht zu alt)

Browser

Bevorzugt: Google Chrome. Bedingt: Microsoft Edge, Firefox.

Nicht unterstützt Safari.

Für volles Nutzungserlebnis PC/Laptop (nicht zu alt)

keine Angaben zu Browserunterstützungen

Bekannte Probleme Gelegentliche Verbindungsabbrüche, Mindere Videoqualität,
Broadcast-Funktion startet manchmal ohne Video.
Gelegentliche Verbindungsabbrüche, Echo von Hintergrundmusik bei Nutzung ohne Headsets Bisher nicht ausreichend getestet.

Weitere Tools dieser Art findet man u.a. in der ausführlichen Liste von
Videokonferenzen: 30 beliebte Tools für virtuelle Events

Anwendungsszenarien

Unterm Strich bieten sich neue Möglichkeiten auch für kirchliche Organisationen. Einige beispielhafte Anwendungsfälle sind folgend skizziert. Die Liste ließe sich noch beliebig mit weiteren Ideen erweitern.

SZENARIO-EMPFEHLUNGEN
Fokus auf informelle Anlässe
Gesamtbewertung basierend auf passenden Funktionsmöglichkeiten
und Kosten/Funktion-Verhältnis
XX = Gut geeignet, X = Geeignet, O = Bedingt geeignet, — = Nicht geeignet
WONDER SPATIALCHAT GATHER
“Gemeinde-Café” z.B. nach dem Gottesdienst XX X O
Kleineres Seminar X X X
Jugendgruppe X XX X
Kleingruppe X XX X
Konferenz oder andere größere Anlässe XX O X
Integrierte Gebets- oder Seelsorgeangebote XX X
Livestream gemeinsam anschauen XX O

Empfehlungen

Für überschaubare Veranstaltungen bis 25 Personen wie Teamevents, kleinere Seminare, Kleingruppen oder Jugendgruppen eignet sich SPATIALCHAT, da es etwas hochwertiger und intuitiver rüberkommt. Dort sind die Möglichkeiten mit Medien zu arbeiten vielfältig (wie z.B. die Einbindung von Hintergrundmusik oder eines Livestream-Videos). Zusätzlich ist der Vorteil, dass in der Version auf mobilen Geräten die Videokamera funktioniert und so die Teilnahme für Personen ohne Laptop oder PC ermöglicht wird.

Für die jüngere Zielgruppe oder spezielle Anwendungen wäre bis 25 Personen auch GATHER noch einen Blick wert, da es die Computerspielgrafik im Vergleich zu den beiden anderen Programmen am meisten ausreizt und Werkzeuge wie Whiteboards oder andere nette Features unterstützt.

Für große Gruppen/ Events/ Konferenzen mit Teilnehmerzahlen über 25 Personen oder der Notwendigkeit private Gesprächskreise (für Gebet, Seelsorge, o.ä.) inmitten der Veranstaltung anbieten zu können, bekommt WONDER seine Vorzüge, da es bis voraussichtlich Herbst 2021 noch kostenlos bleibt. Etwas nachteilig ist, dass auf mobilen Geräten die Videofunktion derzeit (noch) nicht möglich ist. Man kann aber trotzdem teilnehmen, Videos Anderer sehen und sich via Audio mitteilen.

Die Chance

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Die angesprochenen Plattformen ermöglichen Kirchen und anderen Organisationen über die klassischen Videokonferenzen hinaus neue Perspektiven, die Lücke für freiere Formen des Miteinanders im Glaubenskontext trotz räumlicher Distanz füllen zu können. Lockere digitale Zusammenkünfte von größeren Gruppen mit wechselnden Gesprächspartnern werden von Zuhause dynamischer und natürlicher erlebbar. So können mit relativ wenig Aufwand Brücken zum Kennenlernen, Netzwerken und für Gemeinschaftsangebote geschaffen werden. Das Gemeinde-Café nach dem Gottesdienst, ein geplantes Kirchenjubiläum, lockere Treffen mit der Jugendgruppe: Wir sollten auf jeden Fall die Chance nutzen, es einmal auszuprobieren!